Als eine Vierjährige in die eisige Reuss schlittelte
11.02.2022 BirmenstorfIm Winter 1929 sorgt die Kälte nicht nur für Schlagzeilen rund um die «Rüssgfrörni», sie bringt auch Sorgen und Schreckmomente
Eine Familie kauft 1929 für ihr Baby einen Petrolofen, damit es die Kälte aushält. Ein kleines Mädchen fährt ...
Im Winter 1929 sorgt die Kälte nicht nur für Schlagzeilen rund um die «Rüssgfrörni», sie bringt auch Sorgen und Schreckmomente
Eine Familie kauft 1929 für ihr Baby einen Petrolofen, damit es die Kälte aushält. Ein kleines Mädchen fährt mit dem Schlitten in die eiskalte Reuss – davon erzählt ein Artikel im Badener Neujahrsblatt 2022.
Wie oft hätte man in den letzten Jahren strengere Winter gewünscht.» Ja, pflichtet man bei, wenn im Mittelland gerade mal ein paar Schneeflocken fallen, um dann aufzuhorchen: «Jetzt ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, dass alle für viele Jahre genug haben, ausgenommen vielleicht – die Kohlenhändler.» Geschrieben wurden beide Sätze vor knapp hundert Jahren, im Februar 1929.
Bitter kalt war es in diesem Jahr im Januar und noch kälter wurde es im Februar. Davon erzählt der Birmenstorfer Historiker Patrick Zehnder in seinem Artikel «Gute, kalte Zeiten: Die Rüssgfrörni 1929». Dieser Text war jüngst im Badener Neujahrsblatt 2022 publiziert worden, mit dem oben erwähnten Zitat aus dem Aargauer Volksblatt fängt Zehnders Geschichte an. Sowohl Familienerzählungen als auch Zeitungsarchive dienten ihm als Vorlage, darunter auch das Archiv des «Reussbote». Der Historiker hat über und rund um die zugefrorene Reuss Trouvaillen zutage gefördert, wovon hier eine kleine Auswahl versammelt ist.
Das Volksfest und grosse Sorgen
Bereits vor einem Jahr war die «Rüssgfrörni» dank Patrick Zehnder Thema im «Reussbote» (5. Januar 2021). Im Zentrum stand die grimmige Kälte, die das Eis im Fluss gefrieren liess und entlang der Reuss in den Dörfern tagelang zu einem Volksfest geführt hatte: Jung und Alt wanderte zu Fuss oder glitt auf Schlittschuhen über das lange, lange Eisfeld. «In die winterlichen Freuden mischten sich aber auch Sorgen. So barsten in Mellingen auf dem Lindenplatz mehrere Bäume», schreibt Zehnder in den Badener Neujahrsblättern. Auf diese Sorgen legen wir im «Reussbote» den Fokus. Minus 28 Grad zeigte das Thermometer am Rohrdorferberg, in Reussnähe sogar minus 30 Grad. Alle Weinbaugemeinden des Bezirks Baden fürchteten grosse Frostschäden. Der Frost allerdings, der die Augen an den Weinstöcken schwarz werden liess, verursachte keine Schäden am Rebholz und führte auch nicht zu einem schlechteren Ernteertrag. Im Gegenteil, im Herbst 1929 soll der Ertrag «sowohl an Menge als auch an Wert deutlich über den Vorjahren» gewesen sein.
Mit dem Schlitten in die eisige Reuss
Die grimmige Kälte liess vor allem die Sorge um die Ärmsten in Dörfern und Städten wachsen. Während Städterinnen und Städter unter den eisigen Temperaturen litten und auch auf Hilfe durch Kohle- oder Holzspenden angewiesen waren, gab es in den grossen Bauernhäusern in den Dörfern «dank Herd und Kachelofen mindestens eine warme Küche und eine geheizte Stube». Die Birmenstorferin Cäcilia Humbel-Würsch, geboren 1928, war in diesem kalten Winter noch kein halbes Jahr alt. Dem Historiker Patrick Zehnder erzählte sie vor einigen Jahren, wie ihre Eltern damals einen Petrolofen gekauft hatten, um ihr Kinderzimmer zu beheizen. Das ging durchaus ins Geld. Während nämlich im Ortsbürgerwald Holz einfach aufgesammelt werden konnte, musste die Familie Würsch für Petrol ihr Portemonnaie zücken.
Noch sehr klein, gerade mal vier Jahre alt, war die Tochter von Sattlermeister Lienhard in Mellingen, als sie mit dem Schlitten hinter dem Mellinger Rathaus in die eiskalte Reuss fuhr und von der Strömung fortgerissen wurde. Wie Zehnder einer Notiz im «Reussbote» vom 20. Februar 1929 entnimmt, soll das Mädchen um sein Leben gekämpft und sich zwischendurch auch am Treibeis festgehalten haben. Erst als Metzgermeister Buchmüller beherzt auf das brüchige Eis eilt und dem Mädchen eine Holzlatte reicht, gelangt es ans rettende Ufer. Es war mit dem Schrecken davon gekommen. In Birmenstorf sah sich der Totengräber vor eine ganz andere Herausforderung gestellt. Als am 20. Januar Armenpfleger Robert Humbel starb, war der Boden auf dem Friedhof steinhart gefroren. Anders als gewohnt, reichten Pickel und Schaufel nicht, um das Grab zu öffnen. «Nach vergeblichen Anläufen liess dieser einen pneumatischen Kompressor auf den Friedhof transportieren und die letzte Ruhestätte regelrecht aufspitzen. Danach stand einer schicklichen Erdbestattung nichts mehr im Wege», skizziert Zehnder die Geschichte, die ihm Robert Humbels Enkel erzählt hatte.
Die Vögel finden keine Mäuse
Nicht nur die Sorge um die Menschen war gross, die Sorge galt auch den Tieren. Im Brugger Tagblatt findet sich ein Aufruf von Natur-und Vogelschutzorganisationen. Im harten, unerbittlichen Winter würden nicht nur Rehe eingehen. Ums Überleben kämpften auch Vögel, die sich von Fleisch ernähren, etwa von Mäusen: «Ein grosses Hungersterben unter dem Wassergeflügel, auch unter Mäusebussarden und Eulen, hat eingesetzt und droht sie zu vernichten.» Die Organisationen riefen dazu auf, «zur Tat zu schreiten, und was von Fleischabfällen zusammengerafft werden kann, an jene Stellen hinauszutragen, wo die darbenden Geschöpfe sie leicht finden». (hhs)


