Was ihre Tage im hohen Alter schöner macht
01.07.2022 Fislisbach, Region ReusstalAnnelies Hubler, Ulrike Böttcher und Anna Cabassi erzählen, dass sie sich über jedes Lächeln im Gang freuen und auch auf ein Cornet
Sie sind reich an Lebenserfahrung, ihre Körper aber sind gebrechlich. Drei Frauen reden über Geniessen im hohen ...
Annelies Hubler, Ulrike Böttcher und Anna Cabassi erzählen, dass sie sich über jedes Lächeln im Gang freuen und auch auf ein Cornet
Sie sind reich an Lebenserfahrung, ihre Körper aber sind gebrechlich. Drei Frauen reden über Geniessen im hohen Lebensalter.
Bald wird es wieder so weit sein. «Herr Rohrer wird uns mit einem Cornet überraschen», sagen die Frauen. Wenn es ganz heiss sei, komme Thomas Rohrer, Geschäftsleiter im Alterszentrum am Buechberg, vorbei und schenke allen eine Glace. Vorfreude und Schalk sind in den Gesichtern zu lesen: «Das ist ein grosser Genuss.»
Jetzt aber sitzen die drei Frauen erwartungsvoll in der kühlen Cafeteria. Schön frisiert, geschminkt, ein Lächeln auf den Lippen. Anna Cabassi feierte dieses Jahr ihren 90. Geburtstag, Annelies Hubler hat den runden Geburtstag noch vor sich. Ulrike Böttcher dagegen meint, sie sei noch nicht so alt. 79 ist sie. Böttcher lebt seit acht Jahren im Alterszentrum, weil sie wegen einer Wirbelverletzung auf Rollstuhl und Pflege angewiesen ist.
Wenn die kleinen Gesten zählen
Die drei Frauen erzählen, was ihre Tage im hohen Lebensalter schöner macht. Es ist nicht wenig. Das Gespräch entwickelt sich zu einem kleinen philosophischen Ausflug in Sinneswelten – ihre Lebenserfahrung schimmert stets durch. Es geht um Dankbarkeit und Wertschätzung, um Freundlichkeit und kleine Gesten, auch um Überraschungen. Denn Geniessen, meint Annelies Hubler, habe auch mit Erlebnissen zu tun, die den Alltag unerwartet bereichern. «Ein Lottogewinn», wirft Anna Cabassi vergnügt ein. Alle drei lachen.
Es scheint, als hätten die drei Frauen ihre Sinne geschärft. Sie geniessen ein Lächeln oder Winken auf dem Gang, die Andeutung einer Berührung oder einer Umarmung, die wegen Corona im Alterszentrum nach wie vor mit Zurückhaltung ausgeführt wird. «Schattenseiten haben uns geprägt», sagt Hubler. Einschränkungen, Isolation, Quarantäne. Besonders die Pandemiejahre, in welchen sie Anfang 2021 26 Bewohnerinnen und Bewohner im Buechberg wegen des Corona-Virus verloren haben. «Wenn wir uns begegneten, legten wir einen Vorsichtsgraben zwischen uns», erklärt Hubler. Und doch hätten sie einander gewunken, in solchen Zeiten oft mit beiden Händen. Diese Erfahrung habe sie als Gruppe zusammengeschweisst. Sie seien mutiger geworden, würden sich zunicken und sich kleine Hilfestellungen anbieten. «Dieses Gärtchen müssen wir pflegen», sagt Hubler.
«Ferien am Meer geht nicht mehr»
Die Erwartungen aber sind kleiner geworden. «Ferien am Meer», sagt Anna Cabassi, «das geht nicht mehr.» Die 90-Jährige lacht. Sie hat dennoch viel Schönes zu erzählen. Das dürfte nicht zuletzt an Cabassis Lebenseinstellung liegen. «Es ist wichtig, sich anzupassen», meint sie. Man mache sich das Leben sonst unnötig schwer. Cabassi ist froh, muss sie nicht mehr putzen oder waschen. Und doch geht die ehemalige Weissnäherin jeden Morgen ins Nebenhaus und legt Wäsche zusammen. Es gefalle ihr, Tücher oder Laken durch ihre Hände gleiten zu lassen und ordentlich zu falten. Regelmässig trifft sich Cabassi auch mit drei anderen Frauen zu Spielnachmittagen oder einfach zum Reden. «Eine von ihnen kannte ich aus jungen Jahren, aus dem Quartier. Unsere kleinen Söhne spielten miteinander», erzählt sie. Sie hätten sich aus den Augen verloren und nach 60 Jahren im Buechberg wieder gefunden.
Es geht ums Zusammensein. Dazu sind auch die soziokulturellen Aktivitäten geeignet: Tanzen im Sitzen, der monatliche Singabend oder Konfi kochen. Inzwischen wird wieder jede Woche gejasst und täglich sitzt ein Duo am Schachbrett. Alle drei sind sich einig, dass die musikalischen Anlässe, periodische Ausstellungen, die Spaziergänge in der Gartenanlage, Besuche beim Fischteich und den Volièren Genuss und Freude schenken.
Angeboten werde auch ein monatlicher Verwöhnnachmittag, sagt Ulrike Böttcher. An diesem Nachmittag könne man sich die Nägel pflegen lassen. Verschmitzt lächelnd fügt sie an: «Wie Sie sehen, schminke ich mich.» Und dafür erhalte sie schon mal ein Kompliment. Sie freue sich jeden Morgen auf ihren Rollstuhl, der sie mobiler mache. Vor allem aber akzeptiere sie ihre Situation. Freundinnen, die zu Besuch gekommen seien, hätten sie wegen ihrem Optimismus bewundert. Böttcher aber meint: «Man muss sich doch einfach zurechtfinden.»
«Das ist nicht selbstverständlich»
Das scheint diesen drei Frauen im Buechberg zu gelingen. «Wir dürfen uns äussern, werden wahrgenommen.» Auch Wünsche könnten sie anbringen. Ob bei Balkonpflanzen oder beim Essen. Einen Tageshit auswählen zum Beispiel. Vielleicht steht ein asiatisches Gericht auf dem Menü? Oder es gibt die Einback-Erdbeerschnitte, die von einigen angeregt wurde? Böttcher erwähnt Raclette und Fondue, das sie im Winter geniessen durfte. Das sei während Corona schwierig gewesen. «Das Raclette kommt wieder», meint voller Zuversicht Hubler.
Bei Tisch sind es kleine Dinge, die den Alltag erleichtern: Kleineres Besteck, weil die Hände grösseres nicht mehr zu fassen vermögen; Unterstützung beim Schneiden, weil es alleine nicht mehr gelingt. «Alle sind sehr aufmerksam», betont Cabassi. Und Hubler ergänzt: «An Sonntagen oder Geburtstagen gibt es weisse Tischdecken. Das ist nicht selbstverständlich.»
Thomas Rohrer hatte die Frauen gefragt, ob sie erzählen möchten, was ihnen Freude im Alltag bereitet. Wären kritischere Stimmen nötig gewesen? – Nein. Es war sehr schön und bereichernd, Ulrike Böttcher, Anna Cabassi und Annelies Hubler zuzuhören.
Heidi Hess



