Pisee-Häuser, gebaut nach dem grossen Feuer
17.10.2023 Fislisbach, Region ReusstalVor 175 Jahren wütete einen Tag lang das Feuer. Im gleichen Jahr wurde das Dorf modern geplant und wieder neu aufgebaut
Beim Dorfbrand im März 1848 wurden fast alle Häuser in Fislisbach von den Flammen verschlungen. Nach wenigen Monaten waren im Herbst die meisten Häuser ...
Vor 175 Jahren wütete einen Tag lang das Feuer. Im gleichen Jahr wurde das Dorf modern geplant und wieder neu aufgebaut
Beim Dorfbrand im März 1848 wurden fast alle Häuser in Fislisbach von den Flammen verschlungen. Nach wenigen Monaten waren im Herbst die meisten Häuser aber wieder aufgebaut. Einige davon in Pisee-Bauweise. Diese Häuser in Stampflehmtechnik sind im Kanton einzigartig.
Entsetzlicher Anblick!» – So äusserte sich ein Augenzeuge am Abend nach dem Dorfbrand in Fislisbach. Es war der 30. März 1848. Morgens um elf Uhr war in einem Haus in der Nähe der Kirche vor 175 Jahren im Dorf ein Feuer ausgebrochen. Rasch züngelten die Flammen in die Höhe, griffen auf die strohbedeckten Nachbarhäuser über, wüteten einen Nachmittag lang und zerstörten fast das ganze Dorf.
Der Historiker Tobias Wildi beschreibt den Fislisbacher Dorfbrand in den Badener Neujahrsblättern von 1998. Er ordnet ein und analysiert. Er betont auch, die Brandursache sei unbekannt. Dennoch versucht Wildi ein Bild zu zeichnen, wie es an diesem Tag zum verheerenden Brand kommen konnte: Eine Bäuerin, stellt sich der Historiker vor, kocht um halb elf Uhr das Mittagessen für die grosse Familie mit Kindern und Knechten. Sie rüstet Gemüse für eine Suppe, facht das Feuer an und legt Holzscheite nach – «der gemauerte Ofen war spröde und rissig und hätte schon lange geflickt werden müssen», vermutet der Historiker. Bald aber kocht auf dem Herd die Suppe, die Bäuerin holt Kräuter im Garten, begegnet auf der Strasse dem Pfarrer und vergisst, ins Gespräch vertieft, ihre Suppe auf dem Herd. Die Suppe kocht über, der Herd fängt Feuer, überall Flammen und Rauch. – Vielleicht?
Keine Todesopfer, alles verloren
Erwiesen ist: Das Strohdachhaus brannte innert kurzer Zeit lichterloh, breitete sich rasend schnell über die benachbarten Dächer – ebenfalls aus Stroh – aus und zerstörte im Verlaufe eines Nachmittags fast alle Häuser im Dorfkern.
Auch die erst 20 Jahre alte Dorfkirche drohte ein Raub der Flammen zu werden. Gerade noch rechtzeitig aber kamen die Männer aus Mellingen mit ihrer Feuerspritze und konnten das drohende Unglück abwenden. Beim Löschen halfen alle, die ganze Umgebung. Von der Alarmierung bis zum Eintreffen der Mannschaften seien schätzungsweise zwei oder drei Stunden vergangen, schreibt Tobias Wildi: «In dieser Zeit war der grösste Teil des Dorfes bereits abgebrannt und die Löschmannschaften kamen eigentlich zu spät.» Die im Dorfkern lebenden Familien hatten alles verloren, Möbel und Geschirr, Saatgut, Pflüge und Mistgabeln. Gerettet wurden Kühe, Rinder und Hühner. Und: Das Dorf musste kein einziges Todesopfer beklagen.
«Von Baden her, ein Pferdewagen»
Gleichwohl war die Erschütterung gross, wie die Beschreibung eines Augenzeugen zeigt: An diesem Abend nach dem grossen Feuer «starrten die Unglücklichen in die rauchenden Aschenhaufen ihres Obdachs und ihrer Habe, oder sie standen truppenweise ratlos zusammen, nicht wissend wo übernachten, womit sich erhalten.» Von 60 Familien mit 470 Frauen, Männern und Kindern ist die Rede. Abends um sechs Uhr sei von Baden her ein Pferdewagen gekommen, «der ein Fass mit Suppe und eines mit Wein nebst Brot und Tafelgeschirr mitbrachte. Da sammelten sich die hart Betroffenen auf dem Kirchplatz, liessen sich auf der Mauer nieder und genossen, weil zu wenig Geschirr vorhanden, die ausgeteilten Gaben – abwechselnd einander das Geleerte reichend.»
Rund 60 Häuser zählte Fislisbach damals, manche mit teuren Ziegeln bedeckt, die meisten aber mit Stroh. Stroh war günstiger und für die Bevölkerung auf dem Land bezahlbar – entsprechend häufig waren allerdings auch grössere Brände. Das zeigen die Zahlen der kantonalen Brandversicherung, auf die sich der Historiker für seine Recherche stützt. Für den Zeitraum zwischen 1806 bis 1906 sind insgesamt 336 grössere Brandfälle im Aargau verzeichnet. Einer davon ereignete sich 1848 in Fislisbach.
Neues Dorf erwächst aus Trümmern
Im unermesslichen Leid erhielt Fislisbach auch viel Unterstützung. Noch im gleichen Jahr wuchs aus den Trümmern ein neues Dorf.
Eine Woche nach dem Brand, Anfang April, hatte die Kantonsregierung bereits eine Planungskommission eingesetzt. Im ganzen Kanton wurde gesammelt und zu Spenden aufgerufen, um den Opfern, die im Feuer ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, eine Zukunft zu ermöglichen. Fislisbach sollte nach modernen, ortsplanerischen Grundsätzen neu aufgebaut werden. Weniger dicht – die Abstände zwischen den einzelnen Häusern sollten zehn Meter betragen. Umgesetzt wurden Hygienevorschriften, wie sie damals mehr und mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangten: Verboten waren zum Beispiel vor den Häusern Schweineställe genauso wie auch Düngerhaufen oder Aborte. Letztlich dürfte Fislisbach wegen des Feuers früher als andere Dörfer von baulichen Reformen profitiert haben. Der Dorfbrand wird somit auch zu einer Geschichte des Bauens.
Die «Dreckshäuser» sind Zeitzeugen
Davon zeugen unter anderem sieben Häuser, sogenannte Pisee-Bauten, errichtet in Stampflehmtechnik. «Die Fislisbacher Pisee-Bauten zählen kantonsweit zu den einzigen ihrer Art», würdigt diese Bauten die kantonale Denkmalpflege und listet die Häuser an der Niederrohrdorferstrasse 5, an der Dorfstrasse 2 und 8 sowie an der Mitteldorfstrasse 8 und 14 in ihrem Inventar auf.
Den Wiederaufbau von Fislisbach leitete der junge Aarauer Architekt Alfred Zschokke – Sohn von Heinrich Zschokke. Weil Fislisbach weder einen Steinbruch noch grössere Waldgebiete besass, wurde schon bald über Pisee-Bauten gesprochen. Zschokke interessierte sich sehr für diese Technik: Für die Mauern wurde Erde zwischen Schalbretter geschüttet, mit Stampfwerkzeug verdichtet und so auf einen Drittel des Volumens reduziert. «Gegenüber herkömmlichen Bauweisen zeichnet sich dieses Verfahren durch geringe Erstellungskosten aus und war für den Selbstbau unter kundiger Anleitung besonders gut geeignet», erklärt die Kantonale Denkmalpflege. Das einheimische Baugewerbe allerdings fürchtete die Konkurrenz und sprach von «Dreckshäusern».
Im Herbst 1848 jedenfalls waren vier Fünftel der abgebrannten Häuser durch neue ersetzt.
Heidi Hess