«Unvorstellbar, eine so schlimme Vergangenheit»
23.02.2024 Niederrohrdorf, Niederwil, Region RohrdorferbergDie Kantonsschülerinnen Melanie Apaloo und Nuria Wyler drehten einen Kurzfilm über Verdingkinder in der Schweiz
Sie wollten einen Film drehen, der berühren sollte und inhaltliches Neuland ist für Menschen in ihrem Alter. Beim Thema «Verdingkinder» horchten sie ...
Die Kantonsschülerinnen Melanie Apaloo und Nuria Wyler drehten einen Kurzfilm über Verdingkinder in der Schweiz
Sie wollten einen Film drehen, der berühren sollte und inhaltliches Neuland ist für Menschen in ihrem Alter. Beim Thema «Verdingkinder» horchten sie auf und machten sich an die Arbeit. Mit viel Akribie und Leidenschaft.
Lange bevor sie das Forschungsthema für ihre Matura-Arbeit ausgewählt hatten, wussten Melanie Apaloo und Nuria Wyler: «Wir drehen einen Film.» Das taten sie dann auch. Der Film «Du bisch nüt wert» – so der Titel – liegt nun vor. Thematisiert wird darin das Schicksal von Verdingkindern in der Schweiz. Der Titel greift auf, wie Verdingkinder in der damaligen Gesellschaft wahrgenommen wurden. Einer ihrer Gesprächspartner habe nämlich die Dreifaltigkeit für sich neu interpretiert, erzählen die beiden. Immer wieder habe man dem verdingten Kind damals gesagt: «Du chasch nüt, du bisch nüt, du wirsch nüt.»
Das Thema war Tischgespräch
Schauen wir aber zunächst mit den beiden Maturandinnen ein Jahr und noch ein bisschen weiter zurück. Erste Erfahrungen mit dem Stilmittel Film und im Besonderen mit dem Dokumentarfilm hatten Melanie Apaloo und Nuria Wyler bereits im Rahmen eines früheren Projektes an der Kantonsschule Baden gesammelt. Weil ihnen die Form gefiel, sollte auch die Abschlussarbeit ein Film sein. Fest stand für die beiden, dass ihr Film das Publikum emotional berühren sollte. Das Thema sollte zudem inhaltliches Neuland für Menschen ihres Alters darstellen, Aufklärungsarbeit leisten.
Sie hätten lange nach einem geeigneten Thema gesucht, sagen die beiden. Schliesslich sei daheim, am Esstisch, erzählt die Niederwilerin Nuria Wyler, der Begriff «Verdingkinder» gefallen. «Wir wussten kaum etwas darüber», erklärt Melanie Apaloo aus Niederrohrdorf.
Wo es dann schwierig wurde
Das Thema war gefunden. Die Schwierigkeiten aber fingen erst an. Wie sollten sie Menschen finden, die als Kind verdingt wurden und bereit waren von ihrem Schicksal zu erzählen? Ein Aufruf in den sozialen Medien schlug zunächst fehl. Schliesslich stiessen sie im Internet auf den Verein «Netzwerk Verdingt», der im Jahr 2008 in Bern von ehemaligen Verdingkindern gegründet worden war. Sie lernten Kurt Gäggeler kennen, der beim Verein für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Drei ehemalige Verdingkinder erklärten sich bereit, den Maturandinnen vor laufender Kamera ihre Geschichte zu erzählen: Rita Soltermann, geboren 1938, Kurt Gäggeler, geboren 1951 und Beat Eymann, geboren 1956.
Bevor Apaloo und Wyler die drei Zeitzeugen interviewen konnten, intensivierten sie ihre Recherchen. Sie entschieden sich für fünf Themenblocks: Vorstellung der Person, das Leben vor der Verdingung und der Grund dafür. Den Schwerpunkt bildete die Verdingung selbst. Abschliessend sollten die Zeitzeugen erzählen, wie sie heute leben. In Einzelgesprächen mit Soltermann, Gäggeler und Eymann entstanden drei Filme, die jeweils eine Stunde und länger dauerten.
«Alle drei erzählten sehr offen»
«Alle drei erzählten sehr offen», sagen die Maturandinnen. Sie hätten ihre Gesprächspartner immer wieder in sehr emotionalen Momenten erlebt. «Wir vernahmen Begebenheiten», so Apaloo und Wyler, «welche unsere Gesprächspartner zuvor noch nie jemandem erzählt hatten, nicht einmal ihren nächsten Angehörigen.» Soltermann, Gäggeler und Eymann sprachen davon, wie sie als kleine Kinder ihre Familien verlassen mussten, um als Verdingkinder auf Bauernhöfen zu arbeiten. Sie wurden in der Schule gehänselt und gequält, mitunter waren sie in den Familien, in welche sie verdingt wurden, auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt.
Die beiden jungen Frauen sagen, die Einzelschicksale hätten sie sehr beschäftigt. «Unvorstellbar, dass Menschen einer solch schlimmen Vergangenheit ausgesetzt waren, solche Übergriffe und Missbrauch erleiden mussten.» Unvorstellbar auch, dass die Verdingkinder ihrem Schicksal ausgeliefert waren, ohne Familie, ohne jeglichen Rückhalt durch die Gesellschaft. Und diese Geschehnisse würden nicht weit zurückliegen. «Die letzten Verdingungen passierten in der Schweiz in den 1970er-Jahren.»
Kürzen ist angesagt
Die drei Filme lieferten viel Material. Sehr viel für eine Kurzdokumentation, welche sich auf die Dauer einer halben Stunde beschränken sollte. Kürzen war angesagt. Aus den langen Gesprächen filterten Melanie Apaloo und Nuria Wyler jeweils die Essenz von fünf Minuten pro Person heraus. «Das war Knochenarbeit», sagen sie. Aber sie sagen auch, dass sich der Aufwand lohnte: «Wir arbeiteten mit Leidenschaft an unserer Matura-Arbeit.» Und das über Monate hinweg. Begleitende Gespräche, die sie mit einer Sozialarbeiterin und einem Historiker führten, bringen die Aussagen der drei ehemaligen Verdingkinder in einen Kontext, ordnen die damaligen Geschehnisse ein. Entstanden ist, was die beiden beabsichtigten: Ein Film, der einen interessanten Einblick in das Thema bietet – nicht nur für Menschen, die gleich alt sind wie Melanie Apaloo und Nuria Wyler.
Heidi Hess
«Du bisch nüt wert»
Ihre Arbeit fassen Melanie Apaloo und Nuria Wyler wie folgt zusammen: «Das Thema ‹Verdingkinder› war in der Schweiz bis in die 1970er-Jahre ein Instrument, um Kindern aus meist armen Familien eine vermeintlich bessere Zukunft zu gewährleisten. Es handelte sich um ein Rekrutierungsinstrument für billige Arbeitskräfte, von welchem die Landwirtschaft, aber auch Industriebetriebe profitierten. Lange Zeit als legitim erachtet, griff die schweizerische Politik dieses schwarze Kapitel der modernen Versklavung auf und entschuldigte sich im Nachgang im Rahmen der 2014 initiierten Wiedergutmachungsinitiative bei den betroffenen Menschen. Unsere Arbeit soll dazu beitragen, das Unrecht, unter welchem die heute noch lebenden Betroffenen in verschiedener Ausprägung auch weiterhin leiden, unserer Generation näherzubringen. Die Maturaarbeit fasst Aussagen der Einzelschicksale zu einer ergreifenden Kurzdokumentation zusammen. Im Wissen um die emotionale Wirkung unseres Themas entschieden wir uns für das Stilmittel «Dokumentarfilm». Dies ermöglichte uns, die Fragmente Ton, Bild und Text zu einer bewegenden Geschichte zu verweben.» (red.)

