Am 1. August fahren sie in Hemd und Krawatte
12.03.2024 BirmenstorfMit dem Velo fuhren sie nach Baden und bis in die Berge – ein dorfgeschichtlicher Abend über die Arbeiter-Radfahrerbewegung
Zehn Jahre lang waren die «Freien Radler» in Birmenstorf unterwegs. Sie nahmen an Paraden teil und trafen sich im Restaurant Frohsinn.
Sang- ...
Mit dem Velo fuhren sie nach Baden und bis in die Berge – ein dorfgeschichtlicher Abend über die Arbeiter-Radfahrerbewegung
Zehn Jahre lang waren die «Freien Radler» in Birmenstorf unterwegs. Sie nahmen an Paraden teil und trafen sich im Restaurant Frohsinn.
Sang- und klanglos seien die «Freien Radler Birmenstorf» zwischen 1928 und 1930 von der Bildfläche verschwunden, erzählte der Historiker Patrick Zehnder vor rund 60 Interessierten in der Turnhalle Träff. Gerade mal zehn Jahre alt war damals der 1918 gegründete Birmenstorfer Veloclub.
«Bis dahin aber gab es rund zehn Jahre lang eine interessante Vereinstätigkeit.» Dazu gehörte auch die Beteiligung der «Freien Radler» am 1. August 1924. Zehn Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 gedachten das Dorf und seine Vereine der damaligen Mobilmachung. Die Parade der Velofahrer führte vorbei am Garten des Restaurant Bären. Zu sehen ist der Korso auf einer historischen Fotografie von Walter Schneider (oben). In Pumphosen mit Kniestrümpfen, in Hemd und Krawatte traten sie in die Pedale und – «ganz wichtig», so Zehnder, eine Schieber- oder sogar die noch symbolträchtigere Bundesmütze der Arbeiter auf dem Kopf: «Man wollte Staat machen und zeigen, dass hier Arbeiter vorbeifahren». Die Fahne der Birmenstorfer Radfahrer war während dieser Parade an der Lenkstange des Velos, das den Radfahrer-Korso anführte, befestigt. Im hellen Gewand durfte, auf dem Velorahmen sitzend, auch ein kleines Mädchen vorne mitfahren.
Die «Freien Radler» paradierten aber nicht nur, sie luden auch zu Theateraufführungen oder zu Tanzanlässen ein und erwirtschafteten sich damit den willkommenen Zustupf in ihre Vereinskasse.
Zum Feierabendbier in den Frohsinn
Bei seinen Recherchen stiess Patrick Zehnder im Birmenstorfer Gemeindearchiv, im Zürcher Sozialarchiv und vor allem in der Verbands-Zeitung «Arbeiter-Radfahrer» auf zahlreiche Trouvaillen, deren Summe ein Bild der Arbeiter-Radfahrer-Bewegung im Aargau ergeben.
So zeigt beispielsweise eine Anzeige im «Arbeiter-Radfahrer», dass sich die «Freien Radler Birmenstorf» regelmässig im Restaurant Frohsinn trafen, «... jeweilen am 1. Freitag des Monats, abends 8 Uhr.» Die Kleinsektion der Arbeiter-Radfahrer «Freie Radler Birmenstorf» war 1918 von jungen Birmenstorfern ins Leben gerufen worden – sie war im Aargau erst die dritte nach den in Baden (1912) und Stetten (1917) gegründeten Sektionen. Das mag überraschen, weil Birmenstorf eigentlich kein Arbeiterdorf ist. Hier kümmerten sich Bauern um ihre Äcker und Obsthaine; Winzer pflegten ihre Rebberge. Bei Brown Boveri im Industriezentrum Baden aber fanden viele Arbeit und für den Arbeitsweg war das Velo, das um die Jahrhundertwende überaus populär wurde, ein gutes Transportmittel.
Radtouren statt Velorennen
Die verschiedenen Sektionen der Arbeiter-Radfahrer im Aargau übten sich in ihrer Freizeit im Geschicklichkeitsfahren und im Hindernisparcours, sie unternahmen gemeinsame Ausfahrten – gerne in die Alpen oder in die Innerschweiz. An Velorennen allerdings durften sie nicht teilnehmen. Das Streben nach Rekordleistungen war mit den Maximen der Sozialdemokraten kaum vereinbar. Dazu äusserte sich der Aargauer SP-Grossrat und Nationalrat Arthur Schmid 1924 in einem Artikel der «Arbeiter-Radfahrer»: «Im kapitalistischen Wirtschaftsleben wird der Sport unter Umständen zum Beruf. Es gibt Leute, die durch ihr gymnastisches Können verleitet, zum Variété und zum Zirkus übergehen. Leute, die Berufsrennfahrer werden und die von Velo- und Motorradfabriken fest angestellt wurden, um auf extra gut konstruierten Fabrikaten Reklame für ‹ihr› Geschäft zu machen.»
Keine Velorennen für die Arbeiter-Radfahrer, stattdessen politisches Engagement. Die Mitgliedschaft in einem Verein, der in vielen Dörfern fehlende Ortsparteien ersetzte, sei oft auch einem politischen Bekenntnis gleichgekommen, erklärte Patrick Zehnder am dorfgeschichtlichen Abend.
Ulrich Braun: «Genauso war es»
Bleibt die Frage, ob es in Birmenstorf tatsächlich eine Arbeiterbewegung gab? Zugetragen habe man ihm, so der Historiker, dass «Maibändel» auch von Birmenstorfer Arbeitern gekauft worden seien. «Im Dorf aber zeigte man sich damit nicht. Bestenfalls wurde der Bändel unter Kleidern verborgen getragen.» Die Arbeiter mussten schon nach Baden, um ihren Solidaritäts-Bändel auch in der Öffentlichkeit zeigen zu können.
Anschaulich und faktenreich sprach der Historiker über den Veloclub in Birmenstorf, zitierte Zeitzeugen und erzählte Anekdoten über die Arbeiter-Radfahrer-Bewegung im Dorf und im Aargau.
So lebendig, dass Ulrich Braun, der von der Veranstaltung in der Zeitung erfahren hatte und dafür eigens von Windisch nach Birmenstorf gekommen war, schliesslich aufstand. Es habe ihn «chribled» beim Zuhören. Wie gerne hätte er mit ihm zusammengearbeitet, richtete er sich an Patrick Zehnder. Zum Publikum sagte er, genauso sei es gewesen. 1953 sei er als Zehnjähriger der Sektion der Arbeiter-Radfahrer in Baden, der schon sein Vater angehörte, beigetreten. Er wechselte 1970 zu den Arbeiter-Radfahrern in Windisch, denen er jahrzehntelang als Präsident vorstand. Ebenso selbstverständlich sei es in seiner Familie gewesen, dass er als junger Turner einzig beim Arbeiterturnverein Satus Mitglied sein konnte.
Heidi Hess
Velofahrer in Stetten?
Bereits im Herbst 1917 gründeten Velobegeisterte aus Stetten ihre «Freien Radler», als zweite Sektion im Aargau. Ihre Standarte (siehe Bild) befindet sich im Sozialarchiv Zürich, ansonsten ist wenig über die «Freien Radler» in Stetten bekannt. Wer Informationen, Fotos, Gegenstände oder Erinnerungen an den Arbeiterradfahrerverein Stetten hat, melde sich bei Patrick Zehnder pze@bluewin.ch, 056 210 13 15. (red)