Digitale Tür zu fernen oder vergessenen Welten
31.07.2024 Niederwil, FreiamtIm Reusspark tauchen die Bewohnerinnen und Bewohner dank Virtual-Reality-Brillen in neue virtuelle Umgebungen ein
Als zusätzliches Angebot haben die virtuellen Ausflüge beim Aktivierungsteam des Reussparks mittlerweile einen festen Platz im Programm. Die Reisen in andere Welten ...
Im Reusspark tauchen die Bewohnerinnen und Bewohner dank Virtual-Reality-Brillen in neue virtuelle Umgebungen ein
Als zusätzliches Angebot haben die virtuellen Ausflüge beim Aktivierungsteam des Reussparks mittlerweile einen festen Platz im Programm. Die Reisen in andere Welten dienen zur Unterhaltung, aber auch als Erinnerungshilfe.
Die kleinen Boote schaukeln in den azurblauen Wellen, während die typischen weiss-blau bemalten Häuschen über der Bucht von Santorini in der Mittagssonne leuchten: «Sehen Sie das Boot, das gerade aus dem Hafen hinausfährt?», fragt eine beruhigende Stimme aus dem Off. Unwillkürlich dreht Othmar Keller den Kopf und schaut in die angegebene Richtung. Nur wenig später stehen wir auf einem Markt, wo handbemaltes Geschirr feilgeboten wird: «Schön, das ist noch Kunst!», begeistert sich Keller. «Jetzt muss ich sie leider zurückholen», sagt eine Frauenstimme, nachdem wir noch gemeinsam den Sonnenuntergang über dem Meer genossen haben. Es ist die Stimme von Edith Campagnani, die uns nach einer knappen halben Stunde sanft aus unseren Träumen weckt. Gleichzeitig nehmen der 82-Jährige und ich die Brillen ab, mit deren Hilfe Campagnani uns auf die virtuelle Reise geschickt hat. Die Filme wurden in der realen Welt mit einer speziellen 3-D-Kamera aufgenommenen, sodass der Betrachter später das Gefühl hat, mittendrin im Geschehen zu sein. Dreht man mit der sogenannten VR-Brille, wie sie auch bei Computerspielen zum Einsatz kommt, den Kopf, hat man so sogar einen 360-Grad-Rundumblick. Der Ton kommt aus Lautsprechern direkt an der Brille. «Wahnsinn», findet Othmar Keller. «Man liest davon in den Reiseprospekten und dann ist man mittendrin in der Welt», sagt er. «Ich finde das viel klarer und eindrücklicher als Fernsehen», ergänzt er auf Nachfrage. Dann plaudern er und Campagnani über ihre gemeinsamen Reisen. Wo waren sie nicht schon überall? Auf Safari in Afrika oder auf Städtereise in Hamburg. Keller berichtet von einem virtuellen Ausflug zum Funkensonntag, einem Fastnachtsbrauch im Appenzell. Dann erinnert er sich an echte Ferien – am Gardasee oder in Flims Laax: «Wir haben noch das alte Flims erlebt», schwärmt er. Heute sei es einfach nicht mehr dasselbe.
Mancher taucht richtig ab
Der ehemalige Heilpraktiker ist der ideale Kandidat für den Einsatz der Brille. Er ist neugierig und kulturell interessiert und darüber hinaus kognitiv noch fit. Mit ihm kann die Aktivierungsverantwortliche sogar während der virtuellen Reise über das Erlebte, das sie auf einem Tablet mitverfolgt, diskutieren. Bei anderen hält sie sich eher zurück, um das Erlebnis nicht zu stören.
Selbst Patienten mit Demenz können durchaus von den virtuellen Ausflügen profitieren. Gut geeignet sind beispielsweise Filme mit Tieren, etwa über Hundewelpen oder Tiere vom Bauernhof. «Es kann auch helfen, mit gewissen Bildern Erinnerungen auszulösen», sagt Edith Campagnani und erzählt von einer Frau, die sich durch einen der Filme an ihre Kindheit auf dem Bauernhof in der Steiermark erinnerte. Eine andere Bewohnerin tauchte gar so tief in die virtuelle Welt ein, dass sie instinktiv die Füsse hob und fand, sie müsse ihre guten Schuhe ausziehen, weil sie virtuell einen Bach überqueren sollte.
Sicherheit immer im Vordergrund
Doch nicht für jeden ist die moderne Reisehilfe etwas. Die einen haben schlicht keine Lust darauf, andere vertragen die Sicht durch die Brille einfach nicht. «Mann muss sehr aufpassen, wenn jemand ein gewisses Krankheitsbild hat», weiss Campagnani. Menschen mit der Neigung zu epileptischen Anfällen dürfen die Brille gar nicht benutzen. Manchem wird auch schwindelig oder die VR-Brille verträgt sich nicht mit der eigenen Sehhilfe. Man müsse es im Einzelfall ausprobieren», so Campagnani. Die Sicherheit geht bei allen positiven Aspekten der Technologie im Reusspark stets vor. Daher sitzen die Teilnehmenden immer auf einem festen Stuhl, wenn sie die Brille aufsetzen. Der Raum vor ihnen muss frei sein, damit sie sich nicht stossen können. Blickt man in den Filmen selbst an sich herunter, sieht man sich virtuell ausserdem ebenfalls in einem Stuhl sitzen. «Das gibt zusätzlich Orientierung», erklärt Campagnani.
Zusätzliches Angebot
Ohnehin handelt es sich bei den digitalen Ausflügen nur um ein zusätzliches Angebot – nicht etwa um den Ersatz für reale Spaziergänge oder die zahlreichen anderen Aktivitäten des Aktivierungsteams. Dazu gehören unter anderem gemeinsames Kochen, regelmässige Tanznachmittage, Open-Air-Konzerte und andere Anlässe sowie Malen, Singen oder handwerkliche Angebote. «Es geht darum, die Leute aus ihrem Alltag herauszuholen», sagt Campagnani über die Reisen mittels VR-Brille. Es gebe den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit, Dinge anzuschauen, die sie sonst nicht sehen könnten.
Für Othmar Keller sind die gemeinsamen Ausflüge jedenfalls Abwechslung und Bereicherung zugleich: «Ich habe jetzt einen ganz anderen Eindruck von Griechenland, von den Farben der Felsen und der Häuser», lobt er nach dem Erlebnis. Er freut sich schon, wenn Edith Campagnani in der nächsten Woche mit einer neuen Auswahl Filme wiederkommt. Wo die Reise dann wohl hingeht?
Michael Lux