Ein Nationalsport schlägt internationale Brücken
23.07.2024 SportThomas Notter aus Tägerig war als Delegationsleiter eine Woche lang in der Mongolei
Zur Feier von 60 Jahren diplomatischen Beziehungen zwischen der Mongolei und der Schweiz ist eine dreiköpfige Schwinger-Delegation nach Ulaanbaatar gereist. Am Naadam-Festival probierten die ...
Thomas Notter aus Tägerig war als Delegationsleiter eine Woche lang in der Mongolei
Zur Feier von 60 Jahren diplomatischen Beziehungen zwischen der Mongolei und der Schweiz ist eine dreiköpfige Schwinger-Delegation nach Ulaanbaatar gereist. Am Naadam-Festival probierten die Schweizer mongolisches Ringen aus, während die Mongolen in die Schweizer Hosen stiegen.
Zusammen mit Schwingerkönig Christian Stucki und dem früheren Kranzschwinger Matthias Graber reiste Thomas Notter in die Mongolei. «Als Erstes lernten wir, dass man in der Mongolei nicht so strikt vorausplant wie in der Schweiz», sagt Notter. Eigentlich wäre vorgesehen gewesen, dass es einen Plan geben sollte, der den Verlauf der Woche vorzeichnete. Den Plan gab es zwar, aber er wurde diverse Male abgeändert, ein letztes Mal am Morgen der Abreise aus der Schweiz. Schlussendlich funktionierte alles perfekt, einfach ein wenig spontaner als ursprünglich vorgesehen.
Für die ersten zwei Tage waren offizielle Besuche bei erfolgreichen mongolischen Sportlern und Funktionären vorgesehen, zum Beispiel beim Sportminister. Eine Dolmetscherin sorgte nicht nur für den Transfer vom Englischen in die mongolische Sprache und zurück, sondern half auch bei den Verhaltensregeln: «Das mongolische Essen ist gewöhnungsbedürftig», fasst Thomas Notter zusammen – Vegetarier würden hier nicht glücklich. Viel Fleisch von Ziege oder Schaf, am liebsten sehr fettes, kaum Beilagen. Die Anstandsregeln erlaubten es den drei Schweizer Sportlern zwar, etwas stehen zu lassen, doch probieren mussten sie um des Anstands Willen alles. Thomas Notter wurde sogar einmal die Ehre zuteil, eine gebratene Ziege anzuschneiden. Die Gespräche endeten meistens mit einer Art Zusammenfassung. «Der mongolische Sportminister zählte zum Beispiel zum Schluss auf, was mongolische Ringer und Schweizer Schwinger verbindet: ihr Stolz, ihre Verbundenheit zur Heimat und zu deren Traditionen.» Dazu verteilten die Schweizer Geschenke: Sie hatten extra Kuhglocken und Schwinghosen mitgebracht.
Von traditionell bis hochmodern
Die Mongolei, das realisierte Thomas Notter rasch, ist ein Land der Kontraste: «In Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei, wo etwa die Hälfte der rund drei Millionen Mongolinnen und Mongolen lebt, hat es alles: hochmoderne Bauten, aber auch Jurten, in denen die Menschen leben, als wäre die Zeit stehen geblieben.» Jedes Jahr am 11. Juli findet in Ulaanbaatar das grösste mongolische Volksfest statt, das Naadam-Fest. Aus allen Gegenden des nicht sehr dicht besiedelten Landes kommen die Menschen dann in die Hauptstadt. Auf dem Programm stehen Reiten, Bogenschiessen und Ringen. Während das Ringen den Männern vorbehalten ist, messen sich im Reiten und Bogenschiessen auch die Frauen.
Auch die Schweizer probierten das Bogenschiessen aus, das von der Pfeilführung her ein wenig anders funktioniert, als wir es kennen. Die mongolischen Männer schiessen auf eine Distanz von 65 Metern – und Thomas Notter traf das Ziel. Was ihn erstaunte: «Diese Zielmarkierung ist nicht besonders gross. Wir sahen aber Frauen, die 60, vielleicht 70 Jahre alt waren und noch an diesem Wettkampf teilnahmen. Offenbar sehen die Menschen in der Mongolei bis ins Alter sehr gut, sonst wäre das nicht möglich.»
Der Höhepunkt für die Schweizer Delegation waren natürlich die Schwingund Ringkämpfe: «Im Ringen hatte nicht einmal Christian Stucki eine Chance», sagt Thomas Notter. Die mongolischen Ringer sind schwere Hünen, die nicht so athletisch sein müssen wie ein erfolgreicher Schwinger, weil das Ziel des Wettkampfes darin liegt, zu erreichen, dass der Gegner mit einem anderen Körperteil als den Füssen den Boden berührt: Wer mit dem Knie oder dem Ellbogen den Boden berührt, hat verloren. Man muss den Gegner also nicht zwangsläufig auf den Boden werfen.
Diese Kampfweise ist schonender als der Schwingsport und deswegen sind auch viele ältere Ringer noch am Start. Die Verletzungsgefahr ist etwas kleiner. Im Schwingen konnten sich die drei Schweizer dann revanchieren; dort hatten die besten mongolischen Ringer keinen Stich.
Die sehr kommunistisch organisierte mongolische Bevölkerung hat neben der Arbeit kaum etwas ausser dem Sport. Entsprechend hart sind sie im Nehmen: «Einer der Ringer hat sich am Wettkampf das Kreuzband gerissen. Er verliess das Stadion zu Fuss, ohne Bahre oder Rettungswagen. Ein anderer hatte sich den Finger ausgerenkt, der liess ihn sich tapen und machte weiter.»
Der Sieger des Naadam-Ringens, der im K.o.-System erkoren wird, erhält als Preis umgerechnet rund 5000 Franken und einen Range Rover – wobei die 5000 Franken etwa dem Jahreslohn eines mongolischen Viehzüchters entsprechen. «Was mich an diesem Anlass am meisten erstaunt hat», sagt Thomas Notter, «ist auch hier der Kontrast zwischen dem traditionellen Sport, der traditionellen Kleidung und der Tatsache, dass hier VAR eingesetzt wird.» Dieser Video-Schiedsrichterassistent kommt auch regelmässig zum Einsatz.» In der Schweiz wird immer wieder diskutiert, ob man bei Schwingfesten den VAR installieren soll – aber nach wie vor ist Thomas Notter der Meinung, das passe nicht zu unserem Traditionssport.»
Keine Freude, kein Ärger
Die Menschen, mit denen die Schweizer Delegation in Kontakt kam, war sehr interessiert. Der Star war der 1.98-Mann Christian Stucki: «Wir haben dann jeweils erklärt, dass er einer von nur zwei Schwingern in der Geschichte des Sports ist, der das Unspunnen, Kilchberg und das Eidgenössische gewonnen hat. Sehr viele Leute wollten Selfies mit ihm machen.»
Bei allem Enthusiasmus fiel Thomas Notter aber auch die scheinbar stoische Art der mongolischen Sportlerinnen und Sportler auf: «Während die Fans am Naadam-Fest jubelten, zeigten die, die an den Wettkämpfen teilnahmen, kaum eine Regung, egal, ob sie gewannen oder verloren.» Auch im Alltag sind die Menschen unglaublich gleichmütig: Wo immer die Schweizer Delegation hinkam, hatte sie Vorrang, musste zum Beispiel bei Warteschlangen nicht hinten anstehen. «Uns war das jeweils fast peinlich, aber die Leute liessen uns mit der grössten Selbstverständlichkeit vor.»
Um viele Eindrücke und mehrere Hundert Fotos reicher ist Thomas Notter nach einer Woche heimgekommen. Er ist beeindruckt davon, wie der Sport trotz aller kultureller Unterschiede eine dermassen starke Verbindung schaffen kann. «Das sind Erfahrungen, die man mit keinem Geld der Welt kaufen kann.»
Susanne Loacker



