Ein Mord, ein Verdächtiger und Ungereimtheiten
28.02.2025 Birmenstorf1958 wurde der Stadtmistwärter ermordet – davon und von einem Justizirrtum erzählte Simon Steiner am dorfgeschichtlichen Abend
Simon Steiner kam nach Birmenstorf, um von einem Verbrechen zu erzählen. Für einige im Publikum war der Ermordete kein Unbekannter.
...1958 wurde der Stadtmistwärter ermordet – davon und von einem Justizirrtum erzählte Simon Steiner am dorfgeschichtlichen Abend
Simon Steiner kam nach Birmenstorf, um von einem Verbrechen zu erzählen. Für einige im Publikum war der Ermordete kein Unbekannter.
Vielleicht lösen wir den Fall heute Abend sogar», meinte Simon Steiner. Der Journalist und Historiker äusserte diese Hoffnung am dorfgeschichtlichen Abend, organisiert von Gemeinderat und Kulturkreis auch, weil im Publikum zahlreiche ältere Birmenstorferinnen und Birmenstorfer sassen. Einige unter ihnen erinnerten sich nicht nur an die Kehrichtdeponie der Stadt Baden, die sich von 1930 bis 1957 zwischen Birmenstorf und Dättwil befand. Manche waren dem Badener Stadtmistwärter zu Lebzeiten begegnet, wie sich nach der Veranstaltung zeigen sollte. «Wir riefen ihm jeweils ‹Hoi Stadtmischter› zu, wenn wir ihm bei der Deponie oder im Dorf begegneten», meinten sie und liessen den Historiker an weiteren persönlichen Erinnerungen teilhaben.
Stadtmist-Deponie in Birmenstorf
Zuvor aber hatte Simon Steiner einen Krimi erzählt. «Einen echten, hier passiert», erklärte er. Der Historiker hatte einen grausigen Mord und Justizirrtum für die Badener Neujahrsblätter 2024 aufgearbeitet, begangen auf der Ruine Stein. Christian Bätscher, 57 Jahre alt, wurde 1958 in einer Blutlache liegend neben einer Sitzbank am Morgen des Pfingstsamstag aufgefunden. Mit schweren Kopfverletzungen brachte man ihn ins Spital, wo er trotz Notoperation am gleichen Nachmittag starb.
Der Mann sei rasch identifiziert worden, erzählt Steiner: «Er war bekannt, sowohl in Baden, als auch in Birmenstorf.» Er war der Stadtmistwärter. Die Stadt Baden führte seit 1930 auf Birmenstorfer Gemeindegebiet, zwischen Birmenstorf und Dättwil, eine Kehrichtdeponie – heute führt die Autobahn am ehemaligen «Stadtmist» vorbei. Dort entsorgte die Stadt ihren Hauskehricht, Spitalabfälle, Flaschen, auch Metallabfälle, die weiter verwertet werden konnten. «Es soll dort ziemlich gestunken haben», meinte der Historiker, der im Nachbardorf Birrhard aufgewachsen ist. So wenigstens habe man es ihm erzählt. Ratten sollen sich ausgebreitet haben, manche hätten den Weg ins Dorf gefunden und auch an Kühen geknabbert. In Birmenstorf störte man sich am Gestank und befürchtete Verunreinigungen für das Trinkwasser.
Ein Sonderling, eine kuriose Figur
Im Auftrag der Stadt betreute der stark hörbehinderte Christian Bätscher die Deponie mehrere Jahre lang. Er baute aus Abfällen eine einfache Hütte, in der er mit Hunden, Hühnern und Katzen lebte. Bätscher galt als Sonderling. Er stammte aus einer jenischen Familie aus dem Kanton Bern. Eine Lebensweise, so Steiner, die nicht gerne gesehen wurde. «Bätscher war eine kuriose Figur, die oft im Freien übernachtete – im Sommer auch auf der Kanzel der Ruine Stein.»
Im Dorf kam es zu Klagen. Weil Baden das Land aber von einem privaten Eigentümer gepachtet hatte, blieben die Beschwerden lange erfolglos. Erst 1957 wurde die Deponie in Birmenstorf offiziell geschlossen. Bätscher fand danach Arbeit als Handlanger im Badener Baugeschäft Cornaggia. – Ein Jahr später war er tot.
Der Mord sorgte für Aufsehen. Auch weil Erinnerungen an einen anderen Fall noch frisch waren. Peter Stadelmann war 1957 mit einem Wagenheber erschlagen und bei Birmenstorf in die Reuss geworfen worden. Im Fall Christian Bätscher fiel der Verdacht rasch auf Raubmord. Sein Geld fehlte und in einer Felsspalte wurde ein leeres Portemonnaie gefunden.
Am Freitag vor Pfingsten hatte Bätscher seinen Zahltag erhalten. Am Abend war er in Badens Beizen unterwegs. Er trank, jasste und zeigte seinen Lohn. Nach Mitternacht wurde er am Bahnhof zum letzten Mal gesehen, gemäss Augenzeugenberichten in Begleitung eines jungen Mannes mit roter Weste. «Sie beschrieben ihn als Typen mit auffälliger Halbstarken-Bekleidung», erzählte Steiner.
Sie wollten hoch, zur Ruine Stein
Der 35-jährige Hilfsarbeiter Walter Gross wurde von der Polizei befragt und gab sofort zu, dass er mit Bätscher unterwegs gewesen sei. Sie wollten hoch zur Ruine Stein. Weil sie stark betrunken gewesen seien, hätten sie statt der steilen Treppe den Umweg über die Rütistrasse gewählt. Bei einer Baustelle in einer Haarnadelkurve hätten sie eine Pause eingelegt und Steine mit herumliegenden Holzlatten, wie sie später auch als Tatwaffe benutzt wurde, gespickt. Gross allerdings bestritt von Anfang an, etwas mit Bätschers Tod zu tun zu haben. Sie hätten sich hoch geschleppt und Christian Bätscher sei beim Bänkli rasch eingeschlafen. Walter Gross war es zu kalt, er schlief an einem anderen Ort.
Eigentlich hätte Gross nach Pfingsten eine Stelle in Davos antreten sollen. Nun wurde der Mann, um dessen Leumund es nicht sehr gut bestellt war, angeklagt. Gross galt als «arbeitsscheu», «liederlich» und er war vorbestraft. Eine Vorverurteilung. Denn niemand erlebte ihn als gewalttätig.
Der Prozess fand 1959 in Aarau im Schwurgerichtsverfahren statt. Zwölf Geschworene, juristische Laien, sollten beurteilen: Hat Walter Gross den Mord begangen? Ja oder nein? Während des ganzen Prozesses betonte der Angeklagte, er sei unschuldig. «Sein Verteidiger Louis Lang machte im Prozess auch auf diverse Ungereimtheiten aufmerksam», erklärte Simon Steiner. «Langs Appell aber blieb ungehört.»
Frei, «aus Mangel an Beweisen»
Am 2. Juli 1959 sprach das Schwurgericht Walter Gross des Raubmordes schuldig. Im September, nach einer vom Verteidiger beantragten, psychiatrischen Abklärung, lautete das Strafmass: «Lebenslänglich Zuchthaus». Gross beteuerte indes weiterhin: «Ich bin unschuldig.»
Neun Jahre verbrachte Walter Gross im Gefängnis in Lenzburg. 1968 kam die Wende. Die Zeitschrift «sie und er» brachte im Rahmen einer Serie eine Reportage aus dem Gefängnis. Und 1971 kam es schliesslich zum Revisionsprozess, weil neue wissenschaftliche Gutachten die Expertisen von 1958 und 1959 mit einem vernichtenden Urteil widerlegten. Vor allem konnten keine Blutspuren an Gross’ Kleidern festgestellt werden. Hätte er die Tat begangen, hätten seine Kleider wegen der Tatumstände Blutspritzer aufzeigen sollen. Zu früh wurden auch andere mögliche Täter ausgeschlossen.
«Aus Mangel an Beweisen» wurde Walter Gross schliesslich frei gesprochen. Er erhielt als Genugtuung und für Dienstausfälle eine Entschädigung von 130 000 Franken. Ein Täter hingegen fehlte nach wie vor.
Heidi Hess