So kamen die Kletterstangen auf den Pausenplatz
19.09.2025 BirmenstorfSchulturnen fürs Vaterland – über Lehrer-Rekrutenschulen gelangte der Turnunterricht vor 150 Jahren in den Stundenplan
Mitte des 20. Jahrhunderts trat ein neuer Oberschullehrer vor die Birmenstorfer Schuljugend. Als Offizier hielt er viel von körperlicher ...
Schulturnen fürs Vaterland – über Lehrer-Rekrutenschulen gelangte der Turnunterricht vor 150 Jahren in den Stundenplan
Mitte des 20. Jahrhunderts trat ein neuer Oberschullehrer vor die Birmenstorfer Schuljugend. Als Offizier hielt er viel von körperlicher Ertüchtigung. Max Rudolf liess seine Schützlinge im Freien turnen und engagierte sich für die erste Turnhalle im Dorf. Er wehrte sich allerdings gegen die Gründung eines Fussballclubs.
Als sich Max Rudolf (1928–2024) im April 1952 vor der Wandtafel im Birmenstorfer Schulhaus aufbaute, waren seine Schützlinge gespannt. Die 6.- bis 9.-Klässler vertieften beim jungen Lehrer nicht nur ihre Fähigkeiten im Rechnen, Lesen und Schreiben sowie ihre Kenntnisse in Heimatkunde, Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften. Ganz besonders am Herzen lag Max Rudolf die körperliche Ertüchtigung. Die Altvorderen hätten von Leibeszucht gesprochen, die Aufgeschlossenen von Sport. Im Blick hatte der Oberschullehrer vor allem die Fitness der männlichen Schuljugend. Als Artillerieoffizier wusste er um die Bedeutung von Kraft, Ausdauer, Stehvermögen, Geschicklichkeit, Willen und Entschlusskraft in der Rekrutenschule. Zu Beginn seiner Tätigkeit liess Max Rudolf seine Klassen oft im Freien turnen, lief bei Waldläufen frisch voran. Turnlokale standen in der Alten Trotte und in der Scheune des Restaurants Frohsinn in Birmenstorf zur Verfügung, allerdings nur improvisierte. Deshalb machte er sich für den Bau der ersten Turnhalle mit Geräteraum, Garderobe und Duschen neben dem Gemeindehaus in der alten Tapetenfabrik stark. Bis zur Einweihung 1957 plante und baute Birmenstorf nach den Vorgaben der Eidgenössischen Sportschule in Magglingen.
Gleichzeitig stemmte sich Max Rudolf, wie alle konservativen Kräfte im Dorf, unterstützt von den beiden Turnvereinen, gegen die Gründung eines Fussballclubs. Als 1955 der Fussballclub Mellingen und drei Jahre später der FC Fislisbach entstanden, nutzten die Burschen im Dorf die neuen Möglichkeiten. Gegen den Willen der Dorfnotabeln, die das «Ballgestüpfe» für eine primitive Erscheinung hielten. Birmenstorf hat bis auf den heutigen Tag keinen Fussballverein.
Fortführung der Familientradition
Rudolfs Bestreben wurden durch zweierlei erleichtert. Zum einen legten bereits seine Vorgänger Valentin Janett und Rudolf Meier Wert auf eine gute körperliche Verfassung ihrer Oberschüler. Zum anderen teilten auch sein Vater und Grossvater seine Werte. Vater Max Heinrich Rudolf unterrichtete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Dorfschullehrer in Bottenwil im Uerkental. Ebenfalls im Bezirk Zofingen, allerdings in Vordemwald an der Pfaffnern, war Grossvater Heinrich Rudolf tätig, der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Lehrerdynastie begründet hatte. Diese sollte drei Generationen andauern.
Grossvater Heinrich Rudolf gehörte mit Jahrgang 1854 zu den 43 Aargauern, die vor 150 Jahren zur allerersten Lehrer-Rekrutenschule in Basel einrückten. Insgesamt waren in der Stadtkaserne am Rhein 435 ausgebildete Lehrer aus der ganzen Deutschschweiz versammelt. Die grössten Kontingente stellten die bevölkerungsreichen Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und an vierter Stelle der Aargau. Das Eidgenössische Militärdepartement versprach sich viel von der gesonderten militärischen Ausbildung der Junglehrer. Sie sollten in ihren Klassen die körperliche Ertüchtigung vorantreiben und erste militärische Kenntnisse vermitteln. Bis 1891 sollten es 4135 junge Männer sein, die in Basel, Bern und vor allem in Luzern eine Lehrer-Rekrutenschule durchliefen.
Schwerpunkt Turnen
Die Grundausbildung dauerte lediglich sieben Wochen, schliesslich sollten die Lehrer möglichst rasch wieder in der Schulstube stehen. Deshalb war das Programm gedrängt. Von den knapp 300 Ausbildungsstunden lag der Schwerpunkt beim Turnen und bei der Turnmethodik. Diesen «Soldatenschule» genannten Fächern gehörte ein Drittel der Zeit. Die Ausbildung am eben eingeführten Vetterli-Gewehr dauerte gut 40 Stunden. Terrainlehre, Kartenlesen und Distanzenschätzen vertieften die jungen Männer ganz praktisch auf Märschen und bei Gefechtsübungen. Dem Sicherungs- und Patrouillendienst widmeten sie 30 Stunden. Alles in allem gehörte viel Drill dazu, ob im inneren Dienst oder beim Exerzieren in kleinen und grossen Gruppen. Dies war für die Zeit sehr typisch.
Die Lehrer-Rekrutenschulen gehörten zur Reform, welche der Aargauer Bundesrat Emil Welti (1825–1899) einführte. Seit 1866 Mitglied des Bundesrates und hauptsächlich mit militärischen Fragen befasst, liess der Zurzibieter den Zustand der Schweizer Armee umfassend überprüfen. Das Ergebnis der Untersuchung ernüchterten Parlament und Bundesrat. Die damit betrauten Generäle Guillaume Henri Dufour und Hans Herzog hielten vor allem das kantonale System für kompliziert und unflexibel. In den Anfängen des Bundesstaates blieb das Militärwesen nämlich weitgehend eine kantonale Angelegenheit, während sich der Bund auf die Ausbildung von Stabsoffizieren und Spezialtruppen beschränkte. Nicht wenige Kantone missachteten eidgenössische Vorgaben zur Zahl der Wehrmänner, Formationen, Funktionen, Waffen und Munitionsbestand. Der Aarauer Hans Herzog beurteilte die Schweizer Armee sogar als untauglich. Als Schweizer Oberbefehlshaber während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 hatte er die jüngsten Entwicklungen auf dem Schlachtfeld vor Augen und forderte sofortige Verbesserungen.
Zusammen mit Bundesrat Welti erkannte er zudem, dass eine siebenwöchige Rekrutenschule zu kurz war, um kriegstaugliche Soldaten auszubilden. Deshalb setzte er bei der körperlichen Ertüchtigung der Knaben in den Volksschulen an. Die Aarauer Historikerin Claudia Aufdermauer fasste zusammen: «Nach Ansicht von Welti sollten die Volksschulen […] nicht zu Militärschulen gemacht und keine neuen Lehrfächer eingeführt werden. Vielmehr sollte das Bewusstsein der Lehrer für die Thematik geschärft und die körperliche gymnastische Bildung mit der geistigen parallel gehen. Das Marschieren, die Stellungen und Formationen lerne ein Knabe spielender als ein 20-jähriger Rekrut. Und wie solle man einem Knaben im Natur- und Landeskunde-Unterricht nicht dazu anleiten, ‹seinen heimatlichen Boden so zu betrachten, wie er es als künftiger Wehrmann tun soll?›» Tatsächlich fehlte der Turnunterricht jener Jahre in der kurzen seminaristischen Lehrerausbildung.
Kletterstangen allenthalben
Zurück zu Heinrich Rudolf. Er wandte das in Basel Erlernte an der Oberschule von Vordemwald an und schulte die männliche Schuljugend auch körperlich, damit sie später ihre Rekrutenschule bestehen konnten. Somit glückte der eidgenössische Eingriff in das eigentlich kantonale Schulwesen. Auf diesem Weg kam einerseits der Turnunterricht in den Stundenplan der Gemeindeschulen, anderseits gelangten die Reck- und Kletterstangen auf den Turn- oder Pausenplatz. Dies sollte über 100 Jahre so bleiben.
So liess sein Enkel Max Rudolf, der eingangs erwähnte neue Oberschullehrer in Birmenstorf, seine Zöglinge von 1952 bis 1991 nicht nur Marschübungen absolvieren, sondern nach jeder Turnstunde auch an der Stange klettern. Deshalb hatten seine Schüler beim Sporttest an der militärischen Aushebung in Baden auch entsprechenden Erfolg. Das war auch den dortigen Militärsportleitern bekannt, gingen sie doch davon aus, schnelle Kletterer kämen selbstverständlich aus Birmenstorf. Aber das ist alles Geschichte. Statt mit Stangenklettern wird an der Rekrutierung mit «Planks» überprüft, ob die Rumpfstabilität stimmt.
Patrick Zehnder und Marco Leupi
Patrick Zehnder ist Historiker und lebt in Birmenstorf. Er war Co-Projektleiter von «Zeitgeschichte Aargau 1950–2000» und ist Vorstandsmitglied der Historischen Gesellschaft Aargau. Marco Leupi wohnt in Dättwil. Er ist Sammler von Militaria und ein guter Kenner der Schweizer Militärgeschichte.


